Tag: P

Lilli war sieben Jahre alt, hatte Sommersprossen auf der Nase und rote wilde Locken. Was sie am meisten liebte, war Kaugummi. Nicht irgendeinen, sondern den rosafarbenen, der süß wie Erdbeersirup schmeckte und sich perfekt zum Blasenmachen eignete.
Schon früh am Morgen, wenn andere Kinder noch müde ihre Cornflakes löffelten, stand Lilli vorm Badezimmerspiegel und übte Blasen. Kleine zuerst, dann größere, bis sie so dünn und rund wurden, dass man hindurchsehen konnte. Ihre Mutter schüttelte oft den Kopf, aber heimlich lachte sie über Lillis Ehrgeiz.
In der Schule war Lilli für ihre Kaugummikunst berühmt. Auf dem Pausenhof versammelten sich Kinder um sie, wenn sie sich konzentriert hinstellte, tief einatmete und den Kaugummi langsam zu einer prächtigen Blase formte. Es war fast ein Ritual – alle hielten den Atem an, bis sie endlich platze. Und immer lachte Lilli dann so hell, dass selbst die Lehrer schmunzeln mussten.
Eines Montags geschah jedoch etwas Seltsames. Lilli hatte einen neuen Kaugummi ausprobiert, den sie im Kiosk entdeckt hatte: "Super-Duper-Giganto-Bubble" stand drauf. Die Verpackung glitzerte, und es roch nach Zuckerwatte. In der großen Pause kaute sie mit geschlossenen Augen, langsam, konzentriert – und dann pustete sie.
Die Blase wuchs. Und wuchs.
Sie wurde größer als Lillis Kopf. Größer als ihr Ranzen. Und noch größer.
Plötzlich spürte Lilli, wie ihre Füße den Boden verließen. Ein leises Kichern ging durch die Menge. Dann Rufe. Und ein "Oooooooh!", als Lilli wirklich vom Schulhof abhob. Langsam schwebte sie über die Köpfe der Kinder hinweg, getragen von ihrer gigantischen Blase, die in der Sonne schimmerte wie ein rosa Luftballon.

Lilli war nicht erschrocken. Im Gegenteil. Sie grinste. Unten winkten ihre Freunde, und sie winkte zurück. Der Wind spielte mit ihren Haaren, und die Stadt unter ihr wurde immer kleiner. Sie flog über Bäume, Häuser und das große Schwimmbad hinweg. Es war, als hätte sie all die Jahre genau für diesen Moment geübt.
Nach einer Weile, als die Blase begann, leise zu zischen, landete sie sanft auf einer Wiese hinter der Schule. Niemand hatte ihr je geglaubt, dass Kaugummiblasen stark genug zum Fliegen sind. Aber seit diesem Tag wurde Lilli anders angeschaut – mit einer Mischung aus Staunen, Neugier und ein bisschen Ehrfurcht.
Und manchmal, wenn der Wind richtig stand, sah man sie am Himmel – ein Mädchen mit Sommersprossen, flatternden roten Locken und der größten Kaugummiblase der Welt
© Anne Seltmann
Anne Seltmann 27.05.2025, 07.35 | (3/3) Kommentare (RSS) | TB | PL

In den tiefsten blauen Wassern, wo das Sonnenlicht nur noch flüsternd hinabfällt, lebte eine kleine Meerjungfrau namens Liora. Anders als ihre Schwestern, die mit den Wellen spielten und den Meeressternen nachjagten, hörte Liora vor allem auf das Flüstern der Tiefe. Dort, wo die Stille wohnte und Geheimnisse verborgen lagen.
Liora träumte nicht von der Welt der Menschen – nicht von Palästen und glänzenden Kronen. Ihr Herz sehnte sich nach dem Verstehen, nach einer Stimme, die ihr mehr erzählte als nur Geschichten von Land und Luft. Die Tiefe sprach zu ihr von uralten Dingen: vom Puls der Erde, von versunkenen Welten und vergessenen Träumen.
Eines Tages, als ein Sturm die See aufwühlte und die Wellen wie Berge tanzten, hörte Liora ein leises Rufen. Es kam von einem kleinen, verletzten Vogel, der auf einer treibenden Holzplanke gefangen war. Vorsichtig rettete sie das zitternde Wesen und brachte es in ihre schützende Höhle.
Der Vogel erzählte von einer Welt, in der Himmel und Erde sich berühren, von der Freiheit des Fliegens und von dem Wunsch, Neues zu entdecken. Liora spürte eine leise Sehnsucht, die sie nie gekannt hatte – nicht nach einem Prinzen, sondern nach dem Mut, ihren eigenen Weg zu finden.
Sie wusste, sie musste hinaus – nicht um Land zu erobern, sondern um Brücken zu bauen. Brücken zwischen den Welten, zwischen Wasser und Luft, zwischen Stille und Klang.
So verabschiedete sich Liora von der Tiefe, mit dem Vogel an ihrer Seite, und begann ihre Reise in die unbekannte Welt – nicht als Prinzessin, sondern als Wanderin, die das Flüstern der Tiefe in sich trug und die Sehnsucht, die Welten zu verbinden.
Anne Seltmann 26.05.2025, 08.22 | (0/0) Kommentare | TB | PL

"Zwischen den Gräbern wächst das Erinnern wie Efeu – leise, lebendig, unbeirrbar."
© Anne Seltmann
Père-Lachaise – ein Spaziergang unter den stillen Stimmen (2008+2013)
Es gibt Orte, die sich nicht in wenigen Worten fassen lassen.
Père-Lachaise ist so einer. Ein Friedhof – ja. Und doch viel mehr als das. Für mich ist er ein stilles Kapitel Paris', geschrieben in Stein, Moos und Erinnerung.
Ich liebe diesen Ort. Die geschwungenen Wege, die sich zwischen alten Gräbern und Mausoleen verlieren. Die Ruhe, die in der Luft liegt, wie ein zarter Schleier über den Stimmen der Vergangenheit. Die Skulpturen, Engel und Figuren, die trauern, hoffen, wachen – und dabei fast lebendig wirken.
Es sind nicht nur die berühmten Namen, die mich anziehen.Nicht nur Oscar Wilde, Simone Signoret oder Jim Morrison. Es sind die kleinen Gräber dazwischen, die mit ebenso viel Liebe gepflegt werden.Ein altes Schwarz-Weiß-Foto, eingerahmt von Efeu. Ein handgeschriebener Zettel, verwittert, aber lesbar. Ein Kieselstein auf einem Grabstein – Zeichen eines Besuchs, einer Erinnerung.
Ich verliere mich gern dort. Nicht im traurigen Sinne –sondern in einer Art kontemplativem Schauen.
Ein Spaziergang über Père-Lachaise ist für mich wie das Lesen eines Gedichtbands, dessen Verse in Stein gemeißelt sind.
Jeder Schritt erzählt. Jede Figur hält inne. Und die Zeit – sie scheint für einen Moment stillzustehen.
Ich gehe langsam, lasse mich treiben. Manchmal setze ich mich auf eine Bank,lausche den Vögeln, dem Rascheln der Blätter,
und denke: Was für ein schöner Ort, um das Leben zu erinnern!
Anne Seltmann 26.05.2025, 05.58 | (4/0) Kommentare (RSS) | TB | PL


nichts kommt
außer der wind
zwischen den zügen
die anzeige flackert
wie eine erinnerung
an bewegung
menschen stehen
in ihren körpern
als wären sie nur vorübergehend
hier
im dazwischen
kaffee
in pappbechern
trinkt sich lauwarm
in die stille
irgendwo schreit ein kind
als wolle es
den fahrplan umschreiben
ich zähle sekunden
wie schritte
die keiner geht
und stelle fest:
mein warten
hat keinen anschluss
~*~
© Anne Seltmann

Anne Seltmann 24.05.2025, 06.51 | (1/0) Kommentare (RSS) | TB | PL

Anne Seltmann 22.05.2025, 09.09 | (1/1) Kommentare (RSS) | TB | PL



sie wachsen
als hätten sie nie
etwas anderes getan
mit dem mut
den dornen machen
wenn man sich trotzdem
öffnet
ihre farbe
keine festlegung –
nur ein vorschlag
an das licht
sie duften
wie erinnerung
an etwas
das man noch erleben wird
ich beuge mich zu ihnen
nicht aus ehrfurcht
sondern weil
sie einlädt
nicht zu blühen
für mich
sondern mit mir

Anne Seltmann 20.05.2025, 14.23 | (2/0) Kommentare (RSS) | TB | PL


deine hand auf meiner
ist kein versprechen
sondern ein hauch von möglichkeit
wie ein vogel,
der kurz landet
um dann weiterzufliegen
ich atme dich ein
nicht, um dich festzuhalten
sondern um dich zu spüren
in jedem flügelschlag
du bist das leise lachen
in meinem morgen
das licht, das sanft
durch die vorhänge fällt
ich liebe dich
nicht als ziel
sondern als weg
der sich öffnet
mit jedem schritt
~*~
© Anne Seltmann
1997

Anne Seltmann 18.05.2025, 08.49 | (0/0) Kommentare | TB | PL

Juri war ein kleiner Junge.
Er lebte mit seiner Familie in einem Haus am Rande der Wiesen.
Dort wehte der Wind so weich, als würde er streicheln wollen.
Eines Tages, als Juri allein draußen spielte, sah er etwas
Weißes im Gras.
Ein Schaf!
Es stand ganz still und schaute ihn an.
"Hallo", sagte Juri leise.
Das Schaf blinzelte.
Es schien nicht schüchtern, nur ein bisschen neugierig.
Juri ging näher.
Langsam, Schritt für Schritt.
Das Schaf blieb einfach stehen.
"Darf ich mich setzen?" fragte Juri.
Natürlich antwortete das Schaf nicht – aber es beugte sich ein kleines
bisschen,
als würde es nicken.
Vorsichtig kletterte Juri auf seinen Rücken.
Das Schaf war warm und weich und roch nach Sommer.
Es fühlte sich an wie ein Kissen aus Wolle und Wind.
Sie blieben einfach so.
Ein Junge.
Ein Schaf.
Und eine Wiese, die atmete.
Ab diesem Tag waren sie Freunde.
Juri kam jeden Morgen.
Manchmal brachte er ein Stück Apfel mit.
Oder ein Lied.
Das Schaf sagte nie etwas.
Aber es wartete immer schon.
Juri lernte, dass man nicht reden muss, um sich zu
verstehen.
Manchmal reicht es, einfach da zu sein.
Ganz ruhig.
Ganz echt.
Wie ein Schaf.
Wie ein Freund
Anne Seltmann 17.05.2025, 16.05 | (0/0) Kommentare | TB | PL


ich halte sie
nicht fest
nur so,
dass sie weiß: ich bin da
sie sieht durch
alles hindurch
mein atem still,
ihre bewegung ein zucken
gegen die welt
meine hand lernt
wie sich bleiben anfühlt
wenn man fliegen könnte
ich sage nichts
vielleicht
bleibt sie
~*~
© Anne Seltmann

Das Gedicht kann als Metapher gelesen werden für viele zwischenmenschliche Beziehungen oder für den Umgang mit etwas Kostbarem, das sich nicht einfangen lässt:
– ein Kind, das loslassen lernt
– ein geliebter Mensch, der gehen könnte
– ein kreativer Moment, der sich nicht erzwingen lässt
– Vertrauen, das nur wächst, wenn man nichts verlangt
Anne Seltmann 17.05.2025, 09.58 | (0/0) Kommentare | TB | PL


der goldfisch
träumt von flussläufen
aus porzellan
er kennt
nur den rand
als grenze
und spiegel

Anne Seltmann 16.05.2025, 05.46 | (3/2) Kommentare (RSS) | TB | PL