Tag: Friday
Der Morgen lag still über dem Teich. Nebelfäden tanzten auf der Wasseroberfläche, und irgendwo in der Ferne sang eine Lerche. Auf langen, schlanken Beinen stand ein Storch regungslos im Teich . Er wirkte wie eine Statue aus Silber und Weiß, nur seine Augen blitzten wachsam, bereit, jede Bewegung unter der Wasserhaut zu erkennen.
Plötzlich blitzte etwas Goldenes auf. Ein Fisch – nein, ein Goldfisch – zog in eleganten Kreisen vor den Storch. Seine Schuppen funkelten im frühen Sonnenlicht, als hätte er kleine Sonnenstrahlen eingefangen. Der Storch beugte den Hals, bereit für einen schnellen Stoß.
"Warte!" rief der Goldfisch, und seine Stimme perlte wie Wasser über Kiesel. "Bevor du mich frisst, solltest du wissen, dass ich dir mehr geben kann als nur einen schnellen Bissen."
Der Storch blinzelte überrascht."Und was sollte das sein? Ich bin ein Storch – ich brauche Futter, nicht Geschichten."
"Geschichten sind manchmal wertvoller als Futter", erwiderte der Goldfisch und drehte eine glitzernde Pirouette. "Ich bin ein Wächter des Teiches. Wer mir zuhört, erfährt, wo das Wasser am klarsten, die Fische am zahlreichsten und die Ruhe am tiefsten ist. Ich könnte dir zeigen, wie du immer satt wirst – ohne jemals jagen zu müssen."
Der Storch legte den Kopf schief. "Und warum sollte ich dir glauben?"
"Weil du sonst nur mich bekommst", sagte der Goldfisch, "und ich bin winzig. Aber wenn du mich am Leben lässt, bekommst du den ganzen Teich."
Der Storch dachte nach. Der Gedanke an einen Teich voller Beute, der sich ihm bereitwillig zeigte, war verlockend. Schließlich richtete er sich auf, nahm einen Schritt zurück und lächelte – so gut ein Storch eben lächeln konnte.
"Gut, Goldener", sagte er. "Zeig mir den Teich."
Und so schwamm der Goldfisch voraus, während der Storch am Ufer folgte. Der Nebel wich, die Sonne stieg höher, und an diesem Morgen lernten beide etwas Neues: Der eine, dass Gnade mehr bringen kann als Gier, und der andere, dass selbst ein Storch zuhören kann, wenn die Geschichte gut genug ist.
Anne Seltmann 15.08.2025, 06.29 | (0/0) Kommentare | TB | PL
Die Gerbera, wie wir sie heute kennen, wurde im 19. Jahrhundert in Südafrika entdeckt. Ein schottischer Botaniker namens Robert Jameson fand 1884 in der Nähe von Barberton eine auffällig strahlende Wildblume, die von den Einheimischen wegen ihrer leuchtenden Farben geschätzt wurde. Sie wirkte wie eine Sonne auf einem Stiel, und die Legende vor Ort besagte, dass die Blume aus dem Lächeln eines Mädchens entstand, das alle im Dorf glücklich machte. Als das Mädchen starb, soll an ihrer Grabstelle diese Blume gewachsen sein, die fortan das Licht und die Freude ihres Wesens in die Welt trug.
Später brachten Botaniker die Gerbera nach Europa, wo sie in England und den Niederlanden gezüchtet wurde. Heute ist sie eine der beliebtesten Schnittblumen weltweit – nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern auch, weil sie in der Blumensprache für Aufrichtigkeit, Wertschätzung und Lebensfreude steht.
Anne Seltmann 08.08.2025, 07.14 | (0/0) Kommentare | TB | PL
Stell dir vor, der Junge hieß Jona. Er hatte keine Ahnung, wie er auf diese Wolken gekommen war – eines Morgens wachte er einfach dort oben auf, weich eingebettet wie in das größte Federbett der Welt. In seiner Hand hielt er eine lange, schimmernde Angel, deren Schnur nicht ins Wasser, sondern ins Blau des Himmels reichte.
Um ihn herum schwebten Fische – nicht aus Fleisch und Schuppen, sondern aus glitzerndem Licht. Sie zogen ihre Kreise durch die Luft, als wäre das völlig normal, und manchmal streifte einer sanft seine Wange, wie um Hallo zu sagen. Jona angelte nicht, um sie zu fangen, sondern um mit ihnen zu reden. Jeder Fisch erzählte ihm eine kleine Geschichte, wenn er an der Schnur zupfte: von tiefen Meeren, in denen der Mond schläft, von Strömungen, die wie Lieder klingen, und von Reisen zu Orten, die kein Mensch je gesehen hat.
Und so saß Jona Tag für Tag dort oben, lauschte den Geschichten und ließ sie weiterziehen. Manchmal fragte er sich, ob er jemals wieder hinunter zur Erde gehen wollte – aber dann lächelte er. Denn er wusste: Solange die Wolken ihn trugen, würden die Fische ihm immer den Weg zu neuen Wundern zeigen.
Anne Seltmann 08.08.2025, 06.01 | (1/1) Kommentare (RSS) | TB | PL
Heute schenke ich mir Löwenmäulchen
weil etwas in mir
nach sanfter Farbe ruft
die Stiele tragen
ein Gewicht aus nichts
nur Atem und Regenreste
ein paar Blüten
sehen mich an
als wüssten sie mehr
von all den Stunden
die ich nicht benennen kann
ich stelle sie ins Fenster
und warte
bis das Licht
ihnen und mir
denselben Frieden schenkt
Anne Seltmann 01.08.2025, 10.28 | (0/0) Kommentare | TB | PL
Tief unten im Meer lebte ein kleiner Fisch, der anders war als alle anderen. Seine Schuppen waren schlicht, doch sein Körper war über und über mit Knöpfen geschmückt. Große, kleine, bunte und schimmernde Knöpfe – jeder mit einer eigenen Form und einem eigenen Geheimnis.
Die anderen Meeresbewohner wunderten sich und fragten ihn oft: "Warum trägst du all diese Knöpfe?" Der Fisch lächelte sanft und antwortete: "Jeder Knopf erzählt von einem Moment, den ich nicht vergessen will."
Einen roten Knopf hatte er einst am Strand gefunden, als eine Welle ihn ins Meer gespült hatte – er erinnerte ihn an einen Sommertag voller Wärme. Ein goldener Knopf kam von einem Seestern, der ihm einst geholfen hatte, sich vor einem Sturm zu verstecken. Manche Knöpfe waren Geschenke von Freunden, andere Erinnerungen an kleine Abenteuer, die er ganz allein erlebt hatte.
Wenn das Sonnenlicht ins Wasser fiel, glitzerten die Knöpfe wie winzige Sterne, die zwischen den Wellen tanzten. Und jedes Mal, wenn jemand den kleinen Fisch ansah, fühlte er sich ein bisschen glücklicher, als hätte er selbst eine dieser Geschichten berührt.
© Anne Seltmann
Anne Seltmann 01.08.2025, 06.25 | (1/1) Kommentare (RSS) | TB | PL
Kunst aus Knöpfen – kleine Kreise mit großer Wirkung
Es gibt Materialien, die im Alltag leise nebenherlaufen. Sie halten Hemden zusammen, sitzen auf Kissenhüllen oder klackern in der Nähkiste unserer Großmütter: Knöpfe. Kleine Kreise mit Löchern, oft übersehen – und doch voller Geschichten.
In der Kunst haben sie sich ihren Platz eher heimlich erobert. Nicht laut, nicht vordergründig – aber doch mit Nachdruck. Wer genau hinsieht, entdeckt in den Werken mancher Künstlerinnen ein ganzes Universum aus Farben, Formen und Erinnerungen – zusammengesetzt aus Knöpfen.
Eine, die diese Sprache meisterlich spricht, ist * Jane Perkins aus Großbritannien. Sie nimmt das, was andere wegwerfen – Plastikteile, Perlen, Spielzeugreste – und macht daraus Porträts. Bekannte Gesichter wie Mandela, Einstein oder die Queen erscheinen bei ihr wie aus Kindheitsschubladen zusammengesetzt. Und mittendrin: Knöpfe. Sie glänzen, sie leuchten, sie verbinden.
Auch die amerikanische Künstlerin * Lisa Kokin arbeitet mit Knöpfen – allerdings auf ganz andere Weise. Ihre Werke wirken stiller, nachdenklicher. Oft näht sie sie auf Papier oder Stoff, kombiniert sie mit Textfragmenten und lässt so zarte Gedankenbilder entstehen. Ihre Kunst fragt: Wer sind wir, wenn wir erzählen? Und was bleibt, wenn alles gesagt ist?
Natürlich gibt es noch viele andere – teils namenlos, teils verwurzelt in der DIY- oder Textilkunstszene. Knopfkunst ist oft auch eine Geste des Erinnerns. Wie ein leises"Ich war da", festgenäht in Stoff, verwoben mit Geduld und Zeit.
Mich erinnert das an meine eigene Knopfkiste. Vielleicht hast du auch so eine – irgendwo ganz unten in einer Schublade. Wer weiß, was sich daraus noch machen lässt?
[*Namensnennung... unbeauftragt und unbezahlt!]
Anne Seltmann 25.07.2025, 05.45 | (3/0) Kommentare (RSS) | TB | PL
nichts ist gelb
es ist nur eine art
zu leuchten
der stiel grün
von schwerkraft
als wüchse er immerzu
zu jemandem hin
eine mitte,
so groß
dass sich bienen verlieren
wie erinnerungen
im wendekreis
du nennst es
blühen
ich nenne es
sich zeigen
bis zur erschöpfung
manchmal
steht eine allein
am wegrand
und ist doch
eine ganze
sonne
~*~
© Anne Seltmann
Anne Seltmann 18.07.2025, 06.01 | (0/0) Kommentare | TB | PL
Anne Seltmann 18.07.2025, 05.22 | (1/1) Kommentare (RSS) | TB | PL
mohn
eine mohnblume
im grün
kein ort für rot
und doch
sie steht
als wüsste sie nichts
vom auffallen
der wind
streicht vorbei
wie ein vergessenes wort
vielleicht
war sie nie gedacht
vielleicht
ist sie deshalb geblieben
Anne Seltmann 11.07.2025, 08.10 | (3/3) Kommentare (RSS) | TB | PL
Die Silberfische der Träume
Tief unten in einem stillen Meer, das nie ein Sturm erreicht, lebten die Silberfische der Träume. Ihre Flossen waren aus hauchdünnem Licht gewebt, ihr Atem blubberte leise Wünsche ins Wasser. Man sagte, wer ihnen im Schlaf begegnete, würde am Morgen mit einem Lächeln erwachen – und manchmal auch mit einer Antwort auf eine Frage, die man sich nie zu stellen wagte.
Die Fische schwammen durch Korallen aus Zuckerwatte und ließen kleine Blasen aufsteigen, in denen sich winzige Träume drehten – von fliegenden Regenschirmen, tanzenden Waffeln oder geheimen Türen in alten Bäumen.
Eines Nachts näherte sich ein Kind, das sich verirrt hatte in einem seltsamen Zwischenschlaf, irgendwo zwischen Jetzt und Irgendwann. Es blickte die Fischchen an, und eines von ihnen – das mit dem rosigsten Schimmer – sprach in Gedanken:
"Manchmal musst du einfach treiben lassen, was zu schwer geworden ist. Träume schwimmen besser, wenn man ihnen nicht das Herz beschwert."
Das Kind nickte – oder träumte es das nur?
Am nächsten Morgen wachte es mit feuchten Haaren auf und einem Kristallbläschen in der Hand. Darin ein kleiner Fisch, der langsam verblasste.
Aber die Leichtigkeit blieb.
Anne Seltmann 11.07.2025, 05.19 | (0/0) Kommentare | TB | PL