Tag: Nature Thursday
Marlene, die Strandaufsicht
Sie hieß Marlene. Zumindest nannten die Einheimischen sie so. Eine große Möwe mit schiefer Haltung, einer angeknacksten Kralle und dem Blick einer alten Bibliothekarin, die jedes Flüstern hört. Marlene war jeden Tag da. Frühmorgens, wenn der Strand noch schlief, saß sie auf der dritten Holzpfahlreihe, direkt bei der roten Boje, und beobachtete.
Sie sah das Paar, das sich seit Wochen zum Schweigen traf. Immer dieselbe Decke, immer derselbe Abstand zwischen den Kaffeebechern. Sie sah die Kinder, die Burgen bauten und dabei das Meer vergaßen. Sie sah den alten Herrn mit dem Strohhut, der nie badete, aber stundenlang aufs Wasser starrte, als warte er auf ein Zeichen. Marlene sah auch die Touristin mit dem Sonnenbrand auf den Schultern, die sich jeden Tag aufs Neue wunderte, dass Wind kein Schatten ist.
Aber Marlene war keine Möwe, die bloß beobachtete. Sie griff ein. Heimlich. Strategisch.
Wenn jemand sein Brötchen auf dem Handtuch vergaß, pickte sie nicht hinein, sondern stupste es leicht an, als wolle sie sagen: "Denk nach, Mensch." Wenn ein Kind zu nah an die Wellen geriet, flog sie laut kreischend über den Sand, bis die Mutter sich erschrocken umsah. Und wenn zwei Liebende sich zu lange schwiegen, setzte sie sich dazwischen. Nicht aus Bosheit. Sondern weil sie wusste: Manchmal braucht Nähe einen Störenfried, um sich neu zu spüren.
Die Menschen am Strand hielten sie für eine freche Möwe. Eine von vielen. Niemand ahnte, dass Marlene die heimliche Aufsicht war. Nicht offiziell, nicht mit Schild oder Trillerpfeife. Aber mit Blick. Mit Instinkt. Mit einem Herzen, das für jedes verlorene Handtuch flatterte und jeden stillen Kummer im Wind hörte.
Abends, wenn das Licht flacher wurde und der Sand sich kühl anfühlte, flog Marlene auf ihren Lieblingspfahl. Und zählte. Die Schatten, die Geschichten, das Ungesagte. Dann schloss sie die Augen, als müsse auch sie irgendwann zur Ruhe kommen.
Doch nur für einen Moment. Denn Marlene – das wusste der Strand längst – hatte alles im Auge. Immer.
Anne Seltmann 24.07.2025, 06.28 | (1/0) Kommentare (RSS) | TB | PL
Die Ente vom See – Teil 2: Das große Seerosenrennen
Am nächsten Morgen flatterte die Ente aufgeregt ans Ufer.
"Na endlich!" quakte sie und tippelte eilig hin und her.
"Heute ist der große Tag! Das Seerosenrennen! Nur einmal im Jahr, nur für echte Wassersportprofis und gelegentliche Frühstücksbekanntschaften."
Ich hatte gerade meinen Kaffee in der Hand und noch nicht mal guten Morgen gesagt, da schob sie mir schon ein Blatt Seetang zu.
"Regeln", sagte sie.
"Lies sie schnell, der Start ist gleich".
Ich las:
"Und du machst mit?", fragte ich.
"Natürlich! Ich bin dreifache Titelverteidigerin in der Kategorie witzigster Watschelsprung. Außerdem hab ich heute meine Glücksfeder dabei."
Schon schwammen Seerosenboote heran – kleine grüne Plattformen mit flatternden Wimpeln, von Libellen gezogen. Die anderen Enten machten sich bereit, trugen Stirnbänder und blickten entschlossen. Eine trug sogar Schwimmflügel.
Der Startpfiff kam aus einem Schnabelhorn.
Die Seerosen schwankten, die Enten watschelten, glitten, rutschten, quakten, sprangen – ein Chaos aus Flügeln, Wasserperlen und Lachen.
Meine Ente – pardon, die Ente – watschelte erst bedächtig, machte dann einen Salto mit Schwung und landete elegant auf einer Riesenblume.
Das Publikum, eine Horde Frösche in gestreiften Badeanzügen, johlte.
Am Ende saßen wir beide auf der dicken Seerose in der Mitte, pitschnass, mit einer Medaille aus Algen.
"Warst du auch schon mal so mutig?", fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf.
"Dann wird's Zeit", grinste sie.
Und schubste mich in den See.
Anne Seltmann 17.07.2025, 06.01 | (1/0) Kommentare (RSS) | TB | PL
Die Ente vom See – Teil 1
"Guten Morgen", sagte die Ente. Sie stand genau dort, wo ich sie gestern verlassen hatte – am Rand des kleinen Sees, etwas schief im Gefieder und mit diesem Blick, der schon wieder nach Geschichten roch.
"Heute gibt's Frühstück à la Natur", schnatterte sie. "Seerosen mit Algen-Topping – vegan, saisonal und absolut schleimig. Nur der Frosch vom Nachbarteich will schon wieder mitessen. Der hält sich für einen kulinarischen Kritiker, aber hat letzte Woche einen Kieselstein mit einem Käfer verwechselt."
Ich setzte mich an den Uferrand. Die Ente nahm das wohl als Einladung, mir eine Tageszusammenfassung zu geben.
"Gestern ist die Blässhuhn-Gang aus dem Schilf ausgebrochen. Chaos pur. Die wollten die Libellen hypnotisieren! Einfach nur starren und quaken – als wären sie im Yoga-Retreat."
Sie zupfte eine Alge aus dem Wasser, musterte sie mit skeptischem Blick, ließ sie dann fallen. "Ich sag's dir, früher war hier mehr Ruhe. Jetzt? Daueraction. Und dann der Schwan – der will eine Choreografie einführen. Mit Musik! Mit Disziplin! Ich hab ihm gesagt: Ich bin Ente, keine Ballettdiva!"
Ich lachte, und sie nickte zufrieden, als hätte sie gerade einen Punkt gewonnen.
"Du lachst", sagte sie, "aber nächste Woche ist das große Seerosenrennen. Ich starte mit einem Maulwurf im Team. Der hat zwar null Orientierung, aber angeblich den besten Instinkt."
Dann hüpfte sie ein Stück ins Wasser, spritzte mir dabei versehentlich den Schuh nass und meinte nur: "Ich geh mal Seerosen sortieren. Morgen ist schließlich Freitag. Prioritäten, weißt du?"
Und weg war sie – paddelnd, ein wenig schief, ein wenig stolz, völlig überzeugt davon, dass sie den Teich im Griff hat.
Anne Seltmann 10.07.2025, 05.42 | (4/2) Kommentare (RSS) | TB | PL
Die Bäume auf den Kreidefelsen von Rügen, besonders im Nationalpark Jasmund, wirken oft so, als wären sie geordnet oder "sortiert" – das liegt an mehreren Faktoren:
Der Nationalpark ist geprägt von alten Birkenwäldern, die sich relativ gleichmäßig entwickelt haben. Viele dieser Birken wachsen gerade nach oben, was ein besonders aufgeräumtes, säulenartiges Bild ergibt – wie in einer grünen Kathedrale.
Auf dem nährstoffarmen, kalkhaltigen Boden wächst weniger Unterholz als in anderen Wäldern. Dadurch wirken die Baumreihen klarer und strukturierter, weil keine Büsche oder Sträucher das Bild stören.
Da der Nationalpark streng geschützt ist, wird der Wald nicht bewirtschaftet. So kann sich ein sogenannter Urwaldähnlicher Zustand entwickeln – mit klaren Wachstumszonen und natürlichen Ordnungen, die vom Licht und Boden gesteuert sind.
An den Kreidefelsen wachsen viele Bäume in Reihen an den Hängen. Von oben betrachtet oder aus der Ferne wirken diese Reihen besonders symmetrisch, fast wie von Menschenhand gepflanzt – obwohl sie es nicht sind.
03.07.2025, 05.34 | (3/2) Kommentare (RSS) | TB | PL
Marienkäferprotokolle
es war ein punkt
ein roter, bewegter punkt auf der haut des morgens
eine falte im blattlicht,
eine verirrung zwischen ahnung und wind
du zähltest die punkte
als sei zählen ein schutz
gegen das ungefähre, das sich auf deine hand setzte
leicht wie eine möglichkeit
marienkäfer –
keine käfer, keine heiligen
nur schalen aus rot und versprechen
mit flügeln aus flucht
du sagtest: sie bringen glück
ich sah: sie trugen nichts außer flug
und ein winziges zittern
sie blieben nie lang
aber lange genug
um uns etwas zu zeigen
was wir nicht benennen konnten
nur befühlen
Anne Seltmann 26.06.2025, 00.00 | (4/2) Kommentare (RSS) | TB | PL
Anne Seltmann 19.06.2025, 07.46 | (4/3) Kommentare (RSS) | TB | PL
Wassertropfen
fangen das Licht
halten die Welt
im kleinen Glas
leise tanzt Natur
im winzigen Kreis
flüstert vom Leben
im stillen Grün
~*~
© Anne Seltmann
Anne Seltmann 12.06.2025, 07.09 | (4/1) Kommentare (RSS) | TB | PL
05.06.2025, 05.56 | (2/2) Kommentare (RSS) | TB | PL
Anne Seltmann 29.05.2025, 06.53 | (2/0) Kommentare (RSS) | TB | PL
Alte Innenhöfe sind wie Atempausen mitten im Trubel der Stadt. Sie verstecken sich hinter Toren, unter Durchgängen, manchmal hinter einem Nebeneingang. Wer sie findet, betritt keine Plätze – sondern kleine Bühnen der Vergangenheit.
Manche sind wild bewachsen, andere fast museal gepflegt. Immer aber erzählen sie von anderen Zeiten: vom Klappern alter Schuhe, dem Klirren von Geschirr, dem Plätschern eines Brunnens, dem Duft von Geranien auf Fensterbänken.
Sie brauchen keine Aufmerksamkeit – sie haben Würde. Sie laden nicht ein, sie erwarten nichts. Und genau deshalb berühren sie uns: Weil sie einfach sind. Beständig. Voll leiser Schönheit.
Wer sich einmal in solch einem Hof wiederfindet, spürt: Nicht alles muss laut sein, um zu bleiben.
Anne Seltmann 22.05.2025, 06.42 | (5/4) Kommentare (RSS) | TB | PL