Ausgewählter Beitrag

Eines Morgens, beim dritten Kaffee und mit nur einem Socken
am Fuß, fiel mir auf:
Irgendwas fehlt.
Nicht der zweite Socken – der war wie immer auf geheimer Mission im
Paralleluniversum der Waschmaschine. Nein.
Es war… die Zeit.
Sie war weg.
Einfach verschwunden, ohne Abschiedsbrief, ohne
Postkarte aus der Karibik. Ich durchsuchte meine To-do-Liste (ungelesen), meine
Küchenschublade (voller Gummibänder und Quittungen von 2017) und sogar unter
dem Sofa (da wohnt seit Jahren ein Wollmäuschen namens Günther). 
Keine Spur von ihr.
Ich rief bei der Zentrale für Verlorene Zeit an. Eine
freundliche Stimme mit leichtem Ticken im Hintergrund sagte:
"Sie haben leider außerhalb unserer Öffnungszeiten angerufen. Die liegen
zwischen 13:00 und 13:02 Uhr. Bitte versuchen Sie es gestern erneut."
Also machte ich mich selbst auf die Suche.
Ich reiste durch Kalenderblätter, kletterte über verstaubte Termine und sprang
durch verpasste Verabredungen. Nichts. Nur ein Echo, das „gleich, gleich“
flüsterte.
Schließlich traf ich sie – die Zeit – in meiner alten
Jogginghose auf dem Dachboden.
Sie kaute gemütlich auf einem Gummibärchen und sagte seufzend:
"Ich hab dich soooo oft gefragt, ob du kurz einen Moment für mich hast… aber du
warst ja immer beschäftigt. Tja – und dann dachte ich mir: Dann nehm ich
mir jetzt mal frei. Schön war's! Ich war sogar in Paris."
Ich kratzte mich am Kopf.
"Und… jetzt? Kommst du zurück?"
Die Zeit lachte.
"Klar. Aber du weißt ja, wie ich bin – ich renne, ich fliege, ich vergeh… also:
Nutze mich, solange ich da bin. Sonst versteck ich mich wieder – im nächsten * Netflix-Marathon."
Seitdem halte ich sie fest, diese flüchtige Zeit.
Mit Klebezetteln, Kaffeeduft und einer Prise Humor.
Und manchmal…
verstecke ich mich vor ihr. 
© Anne Seltmann
Anne Seltmann 03.07.2025, 17.15
Das ist wieder ein wunderbarer Text. So fantasievoll und schön geschrieben. Einfach super
Liebe Grüße von Heidi
vom 04.07.2025, 18.41