Ausgewählter Beitrag
Das
kleine Mädchen
Da saß sie nun ,in einem Vorzimmer eines Heimes. Wie zur Schau gestellt ,
hoffend und wartend. Heute sollte ihr großer Tag sein. Ihre kleine Freundin war
ja nun auch nicht mehr da, hatte endlich Eltern gefunden, die sich ihrer
annahmen.
Sie war ein Waisenkind, von Geburt an. Ihre leibliche Mutter hat sie einfach
weggegeben.
Sie weinte viel nach ihrer Mutter, die sie doch nicht kannte.
Dann endlich, endlich wurde sie aus diesem Vorzimmer geholt, für ein
Kennenlernen.
Sie sah eine Frau und einen Mann und sofort sprang ihr kleines Herz
über. Sie hatte es sofort gewusst, dass diese Menschen sie für immer behalten
wollten.
Jedes Wochenende wartete sie sehnsüchtig auf ihre „neuen“ Eltern. Sie machten
regelmäßig Sparziergänge mit ihr. Aber dann, wenn es hieß „Wir müssen wieder
zurück“ rollten ganz leise dicke Tränen über ihre Wangen. Die Frau fragte,
warum sie denn weinte. Das kleine Mädchen antwortete stets mit derselben
Antwort: “Ach das ist nur der Wind“ ,und das bei schönstem windstillen Wetter.
Hin und wieder bekam sie kleine Geschenke von den „neuen“ Eltern, aber sie
durfte sie nicht behalten, sie musste sie stets bei den Erzieherinnen abgeben.
Und das machte sie noch mehr traurig. Wie gerne wäre sie mit dem kleinen weißen
flauschigen Hund Abends ins Bett gegangen, hätte mit ihm gekuschelt um sich an
die liebe Frau und dem Mann zu erinnern.
Dann eines Tages, als hätte sie es gespürt, kam das Wochenende, das alle
übertraf. Man packte plötzlich Koffer und Taschen. Sie kaute vor Aufregung an
ihren Fingernägeln, was sie immer tat, wenn sie sehr aufgeregt war.
Es war der 4. November 1965 ein Tag vor ihrem 6.Geburtstag.
Da standen sie nun, die „neuen“ Eltern, was nicht ungewöhnlich war. Sie kamen
ja jedes Wochenende. Aber diesmal kamen sie, um das kleine Mädchen für immer zu
holen.
Für immer! Wie schön das klingt.
Als sie ihr neues Zuhause betrachtete, fing sie wieder an zu weinen .Aber
diesmal nicht aus Traurigkeit. Nein ,sie konnte schon erfassen, dass diese
Tränen aus reinem Glück geweint wurden.
Gegen Abend brachte die neue Mami das kleine Mädchen zu Bett. Sie bekam eine
Gute Nachtgeschichte vorgelesen. Oh wie herrlich war das. Das kannte sie
überhaupt nicht.
Sie schlief glücklich ein .
Am nächsten Morgen stand sie schon sehr früh auf, um nachzusehen, ob dies nicht
ein schlechter Traum war. Aber was war das? Da stand ein Geburtstagstisch mit
einem Kerzenkranz, indem sechs bunte Kerzen brannten. Hatte sie doch
tatsächlich in all der großen Aufregungen der letzten Tage, völlig vergessen,
das sie Geburtstag hatte.
Diesen Geburtstag hat sie aber ein Leben lang nicht mehr vergessen.
© Anne Seltmann
Anne Seltmann 13.02.2006, 16.57
Fast hätte ich gemeint - zu schön, um wahr zu sein, aber da es authentisch ist, kann es schöner nicht sein :-)
Beseelte Grüsse von Gabriela
vom 13.02.2006, 22.47