Blogeinträge (themensortiert)

Thema: AutorenPerlen

Sonderbare Brüder






Ich habe ein Paar Schuh gekauft

und sie, nach altem Brauch, getauft.

Der rechte Schuh heißt Ottokar,

der linke Schuh heißt Waldemar.

Sie sind zwei sonderbare Brüder.

Geht der eine hoch, geht der andre nieder.

Hat der eine Freude, hat der andre Zorn.

Ist der eine hinten, ist der andre vorn.

Ein sonderbares Brüderpaar,

der Ottokar und Waldemar.

Sie sind aus gleichem Material,

aber Ottokar ist rechtsradikal

und Waldemar linksradikal.

Sie stehen auf demselben Fleck,

sie gehen durch denselben Dreck,

vom gleichen Rind das gleiche Leder,

trotz alledem behauptet jeder:

Nur seine Meinung sei die echte,

sowohl der Linke – wie der Rechte.

Sowohl der Rechte wie der Linke

sagt, dass die andere Ansicht stinke.

Ein sonderbares Brüderpaar,

der Ottokar und Waldemar.

Tritt Otti mal in eine Pfütze,

dann macht der Waldi faule Witze.

Tritt Waldi in ein Modderloch,

dann freut sich Otti noch und noch.

Die beiden gehn den gleichen Trott,

doch jeder schwört auf seinen Gott.

Ein jeder schwört auf seinen Leisten.

Sie können sich halt nicht verkneisten.

Sie hassen sich, bekriegen sich,

sie reiben sich beide auf für mich.

Im Streiten sind sie rast- und ruhlos.

Ach, wär' ich erst mal diese Schuh' los.

Ein sonderbares Brüderpaar,

der Ottokar und Waldemar.

Glauben Sie daran? Ich glaube: nein.

So blöd´ können nur wir Menschen sein.

 

 ~*~


Fred Endrikat




Anne Seltmann 19.04.2023, 12.36 | (4/0) Kommentare (RSS) | TB | PL

Sankt Niklas' Auszug





 

Sankt Niklas zieht den Schlafrock aus,

klopft seine lange Pfeife aus

und sagt zur heiligen Kathrein:

öl mir die Wasserstiefel ein,

bitte hol auch den Knotenstock

vom Boden und den Fuchspelzrock,

die Mütze lege oben drauf,

und schütte dem Esel tüchtig auf,

halt auch sein Sattelzeug bereit;

wir reisen, es ist Weihnachtszeit.

Und dass ich`s nicht vergess, ein Loch

ist vorn im Sack, das stopfe noch!

Ich geh derweil zu Gottes Sohn

und hol mir meine Instruktion.

 

Die heilige Käthe, sanft und still,

tut alles, was Sankt Niklas will.

Der klopft indes beim Herrgott an,

Sankt Peter hat ihm aufgetan

und sagt: Grüß Gott! wie schaut`s denn aus?

und führt ihn ins himmlische Werkstättenhaus.

 

Da sitzen die Englein an langen Tischen,

ab und zu Feen dazwischen,

die den kleinsten zeigen, wie's zu machen,

und weben und kleben die niedlichsten Sachen,

hämmern und häkeln, schnitzen und schneidern,

fälteln die Stoffe zu zierlichen Kleidern,

packen die Schachteln, binden sie zu

und haben so glühende Bäckchen wie Du.

Herr Jesus sitzt an seinem Pult

und schreibt mit Liebe und Geduld

eine lange Liste. Potz Element,

wieviel artige Kinder Herr Jesus kennt!

Die sollen die schönen Engelsgaben

zu Weihnachten haben.

 

Was fertig ist, wird eingepackt

und auf das Eselchen gepackt.

Sankt Niklas zieht sich recht warm an;

Kinder, er ist ein alter Mann,

und es fängt tüchtig an zu schnein,

da muss er schon vorsichtig sein.

 

So geht es durch die Wälder im Schritt,

manch Tannenbäumchen nimmt er mit;

und wo er wandert, bleibt im Schnee

manch Futterkörnchen für Hase und Reh.

Aus Haus und Hütte strahlt es hell,

da hebt er dem Esel den Sack vom Fell,

macht leise alle Türen auf,

jubelnd umdrängt ihn der kleine Hauf:

Sankt Niklas, Sankt Niklas,

was hast du gebracht?

was haben die Englein

für uns gemacht?

Schön Ding, gut Ding,

aus dem himmlischen Haus;

langt in den Sack! holt euch was raus!

 

 ~*~


Paula Dehmel

(1862-1918)






Anne Seltmann 06.12.2022, 05.41 | (0/0) Kommentare | TB | PL

Regengedicht




Gestern nach hat es geregnet, geblitzt und gedonnert auf Teufel komm raus.
Für die Erde ist der Regen unerlässlich und es wurde auch Zeit, dass der Wettergott mit ihr ein Einsehen hat.
Heute ist es wieder drückend und der Himmel zeigt sich trübe. Zur Zeit ist es 18 ° C, der Niederschlag liegt bei 8%  und die Luftfeuchte bei 95%
Nachher darf es gerne wieder freundlicher werden, denn wir wollen mit unseren Kindern eine Wasserrutsche aufbauen.






Anne Seltmann 19.08.2022, 08.36 | (2/0) Kommentare (RSS) | TB | PL

Herbst - Kurt Tuchholzky




Eines Morgens riechst du den Herbst.

Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig;

es hat sich eigentlich gar nichts geändert- und doch alles!

 

~*~

Kurt Tucholsky




Anne Seltmann 26.09.2021, 15.30 | (3/0) Kommentare (RSS) | TB | PL

Die Weidenkätzchen




Kätzchen, ihr, der Weide,

wie aus grauer Seide,

wie aus grauem Samt!

O ihr Silberkätzchen,

sagt mir doch, ihr Schätzchen,

sagt, woher ihr stammt.

"Wollen's gern dir sagen:

Wir sind ausgeschlagen

aus dem Weidenbaum;

haben winterüber

drin geschlafen, Lieber,

in tieftiefem Traum."

In dem dürren Baume

in tieftiefem Traume

habt geschlafen ihr?

In dem Holz, dem harten,

war, ihr weichen, zarten,

euer Nachtquartier?


"Mußt dich recht besinnen:

Was da träumte drinnen,

waren wir noch nicht,

wie wir jetzt im Kleide

blühn von Samt und Seide

hell im Sonnenlicht.


Nur als wie Gedanken

lagen wir im schlanken

grauen Baumgeäst;

unsichtbare Geister,

die der Weltbaumeister

dort verweilen lässt."


Kätzchen, ihr, der Weide,

wie aus grauer Seide,

wie aus grauem Samt!

O ihr Silberkätzchen,

ja, nun weiß, ihr Schätzchen,

ich, woher ihr stammt!

 

~*~


Christian Morgenstern




Anne Seltmann 11.09.2021, 09.36 | (1/1) Kommentare (RSS) | TB | PL

Seepferdchen






Als ich noch ein Seepferdchen war,

im vorigen Leben.

Wie war das wonnig, wunderbar

unter Wasser zu schweben.

In den träumenden Fluten

wogte, wie Güte, das Haar.

Der zierlichsten aller Seestuten,

die meine Geliebte war.

Wir senkten uns still oder stiegen,

tanzten harmonisch um einand,

Ohne Arm, ohne Bein, ohne Hand,

wie Wolken sich in Wolken wiegen.

Sie spielte manchmal graziöses Entfliehen,

auf daß ich ihr folge, sie hasche,

und legte mir einmal im Ansichziehn

Eierchen in die Tasche.

Sie blickte traurig und stellte sich froh,

Schnappte nach einem Wasserfloh

und ringelte sich

an einem Stengelchen fest und sprach so:

Ich Hebe dich!

Du wieherst nicht, du äpfelst nicht,

Du trägst ein farbloses Panzerkleid

und hast ein bekümmertes altes Gesicht,

als wüsstest du um kommendes Leid.

Seestütchen! Schnörkelchen! Ringelnaß!

Wann war wohl das?

Und wer bedauert wohl später meine restlichen Knochen?

Es ist beinahe so, dass ich weine –

Lollo hat das vertrocknete, kleine

schmerzverkrümmte Seepferd zerbrochen.

 

 ~*~

 

Joachim Ringelnatz






Anne Seltmann 06.03.2021, 15.15 | (0/0) Kommentare | TB | PL

Glück







Wo immer das Glück sich aufhält -
hoffe, ebenfalls dort zu sein.
Wo immer jemand freundlich lächelt,
hoffe, dass sein Lächeln Dir gilt.
Wo immer die Sonne aus den Wolken hervorbricht,
hoffe, dass sie besonders für Dich scheint.
Damit jeder Tag Deines Lebens so hell wie nur möglich sei.


~*~

Irischer Segenswunsch



Anne Seltmann 31.12.2020, 11.03 | (0/0) Kommentare | TB | PL

Geschichte eines Pfefferkuchenmannes




Es war einmal ein Pfefferkuchenmann,
von Wuchse, groß und mächtig,
und was seinen inneren Wert betraf,
so sagte der Bäcker: "Prächtig".

Auf dieses glänzende Zeugnis hin
erstand ihn der Onkel Heller
und stellte ihn seinem Patenkind,
dem Fritz, auf den Weihnachtsteller.

Doch kaum war mit dem Pfefferkuchenmann
der Fritz ins Gespräch gekommen,
da hatte er schon – aus Höflichkeit –
die Mütze ihm abgenommen.

Als schlafen ging der Pfefferkuchenmann,
da bog er sich krumm vor Schmerze:
an der linken Seite fehlte fast ganz
sein stolzes Rosinenherze!

Als Fritz tags drauf den Pfefferkuchenmann,
besuchte, ganz früh und alleine,
da fehlten, o Schreck, dem armen Kerl
ein Arm schon und beide Beine!

Und wo einst saß am Pfefferkuchenmann
die mächtige Habichtsnase,
da war ein Loch! Und er weinte still
eine bräunliche Sirupblase.

Von nun an nahm der Pfefferkuchenmann
ein reißendes, schreckliches Ende:
Das letzte Stückchen kam schließlich durch Tausch
in Schwester Margeretchens Hände.

Die kochte als sorgfältige Hausfrau draus
für ihre hungrige Puppe
auf ihrem neuen Spiritusherd
eine kräftige, leckere Suppe.

Und das geschah dem Pfefferkuchenmann,
den einst so viele bewundert
in seiner Schönheit bei Bäcker Schmidt,
im Jahre neunzehnhundert.


~*~

Paul Richter



Anne Seltmann 25.12.2020, 09.49 | (1/0) Kommentare (RSS) | TB | PL

Weihnachten ist`s...





Das ist der liebe Weihnachtsbaum.

Ja solch ein Baum!

Der grünt bei Schnee, der glänzt bei Nacht

wie die himmlische Pracht,

trägt alle Jahre seine Last,

Äpfel und Nüsse am selben Ast,

Zuckerwerk obendrein -

so müssten alle Bäume sein!

Nun hat ihn gebracht der Weihnachtsmann,

drei Kinder steh'n und seh'n ihn an.

 

Das erste spricht:

"Der ist doch Weihnacht das Schönste, nicht?"

Das andre: "Woher an Äpfeln und Nüssen

Gold und Silber wohl kommen müssen?

Ich denk mir, das Christkind fasste sie an,

gleich war Gold oder Silber dran."

Das dritte: "Christkind müsste einmal

den ganzen Wald so putzen im Tal;

dann würde gleich aller Schnee zergeh'n,

und dann - das gäb ein Spazierengeh'n!"

 

~*~

 


Victor Blüthgen







[Anmerkung: Das ist ein Baum aus dem Supermarkt.
Ich habe in diesem Jahr keinen Tannenbaum aufgestellt]

Anne Seltmann 24.12.2020, 06.32 | (8/0) Kommentare (RSS) | TB | PL

Die singende Muschel







Als Kind sang eine Muschel

mir das Meer.

Ich konnte träumelang

an ihrem kühlen Munde lauschen.

 

Und meine Sehnsucht wuchs

und blühte schwer,

und stellte Wünsche und Gestalten

in das ferne Rauschen.


~*~

Francisca Stoecklin

1894 - 1931





12.12.2020, 17.29 | (1/0) Kommentare (RSS) | TB | PL